Erzbischof Dr. Robert Zollitsch.

Der Donauschwabe – Zeuge von Hunger, Tod und Vertreibung

Eine biografische Würdigung von Stefan Teppert

Robert Zollitsch kam am 9. August 1938 als jüngster von drei Söhnen in der von Donauschwaben bewohnten, rein katholischen Großgemeinde Filipowa auf die Welt, gelegen in Jugoslawien, wo damals mehr als 500.000 Volksdeutsche lebten. Die Donauschwaben, der jüngste deutsche Neustamm, sind die Nachfahren jener vor allem aus Süddeutschland eingewanderten Kolonisten, die von den Habsburgern im 17. und 18. Jahrhundert nach der Verdrängung der Türken aus Südosteuropa in Pannonien angesiedelt wurden. Es gelang ihnen, aus den verwüsteten und weitgehend entvölkerten Gebieten die Kornkammer der Donaumonarchie zu schaffen. 1763 war Filipowa (Filipovo/Filipsdorf/Szentfülöp) von Kaiserin Maria Theresia gegründet worden. Vier Jahre darauf wanderten die Zollitsch-Vorfahren in die Batschka ein, die Tiefebene zwischen Donau und Theiß. Sie stammen aus der Oberpfalz und lassen sich bis 1532 in Tirschenreuth nachweisen. Die mütterliche Geiger-Familie kommt ursprünglich aus dem Schwarzwald. Vater Sebastian handelte mit dem damals auch in Deutschland begehrten Hanf, der hauptsächlich von den Deutschen der Batschka produziert wurde. Mutter Theresia war in noch unangezweifelter Rollenverteilung Hausfrau und Mutter. Robert erlebte eine „schöne, großartige“ Kindheit, eine Zeit, die er nicht missen möchte.
Eine geistliche Laufbahn einzuschlagen, lag in Filipowa gleichsam in der Luft.

Während zweier Jahrhunderte entsprossen der gottergebenen Batschka-Gemeinde 133 Ordensfrauen, 18 Ordensmänner, 32 Priester, 1 Diakon sowie 4 Prälaten, nicht gerechnet jene, die ihr geistliches Amt nur vorübergehend ausgeübt haben.

Robert Zollitschs Erwählung allerdings ist „die Krone aller geistlichen Berufe, die aus unserem geliebten Heimatort hervorgegangen sind“, wie Schwester Oberin Benildis Piller vom Kloster Bad Niedernau stolz dem neuen Erzbischof gratulierte. In den 1930-er Jahren freilich hätte bereits ein anderer Sohn der nach dem Apostel Philippus benannten Gemeinde die Chance gehabt, Erzbischof von Esztergom/Gran und damit Primas von Ungarn zu werden, hätte er es nicht abgelehnt, seinen Namen magyarisieren zu lassen und damit seine deutsche Identität aufzugeben. Es war Prälat Dr. Anton Lepold (1880–1971), der übrigens in Esztergom die Königsburg des ungarischen Königsgeschlechts der Arpaden entdeckte und freilegte.

Sein erstes Schuljahr konnte Robert Zollitsch noch in Filipowa beginnen. Dann änderten sich die Verhältnisse grundstürzend. Als im Herbst 1944 die russische Front heranrückte, hatte nur ein Bruchteil der Donauschwaben den Aufforderungen der deutschen Militärbehörden zum „vorübergehenden Verlassen“ der Heimat Folge geleistet.

Robert Zollitsch hat die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs hautnah erlitten, auch die „Blutnacht auf der Heuwiese“ am 25. November 1944: „Ich war damals sechs Jahre alt und erinnere mich an viele Details: wie am Morgen alle Männer zwischen sechzehn und sechzig antreten mussten, und wie gegen Abend, als die Dämmerung einsetzte, 212 Männer – begleitet von Tito-Partisanen und von Wagen mit Schaufeln, Spaten und Pickeln – unter Gewehrfeuer hinausgetrieben wurden, um sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Sie mussten sich nackt ausziehen und wurden brutal niedergemetzelt und verscharrt. Unter den Ermordeten im Alter zwischen 16 und 60 befand sich auch Roberts gerade 16 Jahre alt gewordener Bruder Josef.

Wie viele andere aus seinem Dorf werden Robert Zollitsch, seine Großmutter und drei Cousinen am 1. April 1945, es war der Ostersonntag, von den kommunistischen Partisanen aus ihren Häusern getrieben und in Viehwaggons in die Vernichtungslager Gakowa und Kruschiwl transportiert. Seine Mutter hatten die neuen Machthaber zunächst in ein Zwangsarbeitslager verschleppt, sein Bruder Paul war schon 1943 mit 18 Jahren zum Militär eingezogen worden, sein Vater wurde im Oktober 1944, wie alle erwachsenen Männer, zwangsrekrutiert, mit unbekanntem Aufenthalt“.

Robert Zollitsch gehörte zu den wenigen Glücklichen, denen schon im Oktober 1945 die gefahrvolle Flucht aus dem Todeslager durchs Maisfeld über die ungarische Grenze gelang. Ein Dutzend Menschen waren heimlich aus dem Lager geschlichen, darunter auch die Mutter, die es geschafft hatte, von der Zwangsarbeit ins Lager zu kommen. Die resolute Großmutter war dabei die treibende Kraft, sonst hätten leicht auch sie zu den über 9.000 Toten dieses Lagers gehören können. Der Satz, mit dem sie ihre unerschrockene Handlungsweise begründete, wurde ihrem Enkel zur lebensleitenden Maxime: „Wer sich treiben lässt, statt aktiv zu werden, den erwischt es als ersten.“

Ihre erste Bleibe lag in der Erzdiözese Freiburg. Es war die nordbadische Ortschaft Oberschüpf im Landkreis Tauberbischofsheim, wo sich die Familie im April 1946 sammelte und wohin im Sommer auch der Vater aus russischer und Bruder Paul 1948 aus englischer Kriegsgefangenschaft fanden. Dort besuchte der achtjährige Robert die Dorfschule im Oberschüpfer Schloss. Über die Klassenkameraden der Volksschule gewannen sie Anschluss und wurden schnell heimisch. Noch heute pflegt der Erzbischof Kontakt zu ihnen, sie kamen sogar zur Palliumsverleihung mit einem eigenen Bus nach Rom. Als Volksschüler kann sich Robert Zollitsch vorstellen Lehrer zu werden. 1953 zog die Familie den Arbeitsmöglichkeiten hinterher nach Mannheim-Rheinau, wo später ein Eigenheim gebaut wurde. Am städtischen Gymnasium in Tauberbischofsheim interessierte sich der hervorragende Schüler für viele Fächer, am meisten für Religion, Deutsch und Geschichte. 1960 legte Robert Zollitsch in Tauberbischofsheim die Reifeprüfung ab. Ab 1964 konnte er Theologie und Philosophie studieren, an der Universität Freiburg, dazwischen zwei Semester in München. Nach der pastoral-praktischen Ausbildung im Priesterseminar St. Peter weihte ihn sein Vorvorgänger, Erzbischof Hermann Schäufele, am 27. Mai 1965 im Freiburger Münster zum Priester.

Priester, Lehrer, Theologe

Nach einer Vertretungszeit in St. Konrad in Mannheim-Casterfeld verbrachte Zollitsch von September 1965 bis August 1967 als Kaplan in der Pfarrei St. Oswald in Buchen/Odenwald. Anschließend war er in mehreren Funktionen lange Jahre in der Priesterausbildung tätig. Im September 1967 berief ihn Schäufele zum Repetitor für Philosophie am Collegium Borromaeum, dem Erzbischöflichen Theologischen Konvikt in Freiburg. 1972 wurde er Dozent für Homiletik am Priesterseminar und übernahm somit die Predigtausbildung der künftigen Priester. Von 1974 bis 1983 war er Direktor am Collegium Borromaeum und trug damit die für die Erzdiözese fundamentale Verantwortung für die Ausbildung der Priester.
Im März 1974 wurde Robert Zollitsch mit einer Dissertation über „Amt und Funktion der Presbyter in den ersten zwei Jahrhunderten“ von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zum Doktor der Theologie promoviert.

1974 wurde Zollitsch Mitglied des Priesterrates, den er von 1978 bis 1983 auch moderierte. Er setzte sich für eine echte Mitbestimmung in diesem Gremium ein. Seine Arbeit fand ihre Anerkennung in der Ernennung zum Päpstlichen Ehrenkaplan (Monsignore) durch Papst Johannes Paul II. im Jahre 1982. Im April 1983 berief ihn sein Vorgänger Erzbischof Oskar Saier als Mitarbeiter ins Erzbischöfliche Ordinariat, übertrug ihm die Aufgabe des Personalreferenten und ernannte ihn kurz darauf zum Domkapitular. Seine Kenntnisse und Verbindungen aus der Zeit als Priesterausbilder waren für dieses Amt, das er bis zu seiner Wahl zum Erzbischof versah, die beste Grundlage. 1992 wurde er zum Päpstlichen Ehrenprälaten ernannt. Am 06. Juni 2003 wurde Robert Zollitsch zum Erzbischof von Freiburg und Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz erwählt und am 20.Juli 2003 mit der Bischofsweihe in sein Amt eingeführt. In der Deutschen Bischofskonferenz war Erzbischof Zollitsch seit September 2003 Mitglied der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste. Von September 2003 bis September 2006 war er Mitglied der Glaubenskommission. Von 2008 bis 2014 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz . Außerdem gehört er dem Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem an und ist Ehrenmitglied der Katholischen Studentenverbindung K.D.St.V. Ferdinandea (Prag) Heidelberg CV und der K.D.St.V. Wildenstein, Freiburg. In Anerkennung und Würdigung für die Förderung der Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen wurde ihm am 28. Mai 2008 die Ehrendoktorwürde der Kardinal-Stefan-Wyszinski-Universität in Warschau verliehen. Im Dezember 2010 berief ihn Papst Benedikt XVI. zum Mitglied des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung.

„Pflicht des Gedenkens“ und Engagement für Aussöhnung

Dem Thema Flucht und Vertreibung, von dem sein persönliches Schicksal geprägt ist, wendet sich der Erzbischof immer wieder zu und bekennt sich stets freimütig zu seiner Herkunft, eingedenk dessen, dass ohne die Herkunft und das Bekenntnis zu ihr keine Zukunft möglich ist. Daran lässt er keinen Zweifel. Die Gelöbniswallfahrten seiner donauschwäbischen Landsleute nach Altötting, Bad Niedernau, Mary Lake in Kanada und Philadelphia in den USA hat er alle schon zelebriert, nicht nur dem Gelübde seiner Leidensgenossen, sondern auch seiner ureigenen kindlichen Zeitzeugenschaft verpflichtet.

An diesen Wallfahrten halten die Entkommenen aus Titos Inferno heute noch fest. Wendelin Gruber, ein Pater wiederum aus Filipowa, hatte in den schlimmsten Tagen der donauschwäbischen Geschichte zusammen mit den Internierten des Lagers Gakowa das Gelübde abgelegt, jährlich zu wallfahren, „wenn wir überleben“. Bei Treffen seiner in 18 Länder rund um den Globus zerstreuten Dorfgemeinschaft, die ihre einstige Zusammengehörigkeit immer noch hochhält, pflegt Robert Zollitsch, ihr berühmtester Sohn, in heimatverbundener Leutseligkeit teilzunehmen. Wenn er mit seiner erweiterten Familie die Messe feiert, gedenken die Überlebenden aus Filipowa ihrer Toten – mit 1413 Kriegs- und Lageropfern hatten sie einen außerordentlich hohen Blutzoll.


Auch zum 60. Jahrestag der AVNOJ-Beschlüsse – sie hatten den Genozid an den Deutschen Jugoslawiens legitimiert – hielt Zollitsch am 21. November 2004 bei einer Gedenkveranstaltung des Bundes der Vertriebenen im Berliner Abgeordnetenhaus eine in die gleiche Richtung zielende Ansprache. Er mahnte zur Erinnerung an das Schicksal der Deutschen im ehemaligen Jugoslawien. Wer ihr Leid verdränge, mache sie „ein weiteres Mal zu Opfern, zu Opfern des Vergessens“. Die Vertriebenen rief der Erzbischof zu Dialog und Aussöhnung auf. Sie seien durch ihre Geschichte berufene Vermittler zwischen Ost und West.

Ein deutliches Zeichen als versöhnender Brückenbauer setzte der Bischof selbst mit einer Reise, die er im Juli 2005 in die Woiwodina, seine alte Heimat, unternahm, zum ersten Mal nach 60 Jahren. Zollitsch besuchte in bedrückter Stimmung die Stelle des Massengrabes, auch die Stätten der einstigen Hungerlager Gakowa, wo er selbst mit seinen Angehörigen interniert war, und Rudolfsgnad suchte er auf, um für die grausam Umgekommenen eine Messe zu zelebrieren. Viel herzliche Gastfreundschaft, ermutigende Gesten, der Wille zu Dialog und Zusammenarbeit wurden ihm von der katholischen und orthodoxen Kirche Serbiens entgegengebracht, auch von den Menschen seines Geburtsorts Filipowa, der heute Bački Gračac heißt, wo sein Geburtshaus noch steht. Am 21. Juni 2008 ist endlich auch dort nach dem Vorbild anderer Gemeinden in Kroatien und Serbien eine Gedenktafel für die ehemaligen deutschen Bewohner eingeweiht worden. Für die 212 Opfer der größten Hinrichtung der Batschka auf der Heuwiese folgte ein Mahnmal am 17. Juni 2011, bei dessen Einweihung neben Zollitsch sieben weitere Bischöfe zelebrierten und viel politische Prominenz aus dem In- und Ausland anwesend war. Doch bleibt es, so der Bischof, nicht beim Blick zurück in Zorn oder ohnmächtiger Trauer. „Wir dürfen uns nicht abfinden mit der scheinbaren Übermacht von Hass und Gewalt. Unsere Toten wären sonst ganz umsonst gestorben, wenn wir nicht engagiert für Versöhnung, Dialog und Aussöhnung einstehen.“5 Mit seiner west-östlichen Kapazität setzte sich der frisch gewählte Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz beim Patriarchat der serbisch-orthodoxen Kirche dafür ein, das sperrige Balkanland enger an Europa heranzuführen, wo, wie er glaubt, seine Zukunft liegt. Zollitsch ist zutiefst überzeugt davon, dass die Vertriebenen mit ihren in multiethnischer Umgebung gewachsenen Kenntnissen und mit christlicher Versöhnungsbereitschaft die Welt verändern können. „Unsere Geschichte im Osten war nicht umsonst. Sie wird zur Hoffnung. Wir dürfen sie einbringen in ein größeres neues Europa.

Erzbischöfliches Wappen von Dr. Robert Zollitsch

Anmerkungen:

1) Peter Wensierski, Stefan Berg: Es wäre eine Revolution (Gespräch mit Erzbischof Robert Zollitsch). In: Der Spiegel. Nr. 8, 2008, S. 54–55, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55854225.html


2) Lucas Wiegelmann: Erzbischof Zollitsch ist neugierig auf den Himmel, Die Welt v. 29.12.2013,
https://www.welt.de/politik/deutschland/article123359207/Erzbischof-Zollitsch-ist-neugierig-auf-den-Himmel.html


3) Begegnung, Erinnerung, Dank. Predigt beim Pontifikalamt zur Totenehrung der Donauschwaben in der katholischen Kirche „Zur heiligsten Dreifaltigkeit“ in Sindelfingen am 4. Dezember 2004


4) Festpredigt bei der 47. Gelöbniswallfahrt in Altötting am 8./9. Juli 2006, Auszug in: Filipowa’er Heimatbriefe 67/2006, S. 19 f.


5) Erinnerung auf dem Weg in die Zukunft. 60. Jahrestag der AVNOJ-Beschlüsse, Berlin, Preußischer Landtag, 24. November 2004, in: Gerhardsbote. Mitteilungsblatt des St. Gerhards-Werkes e. V. und des Südostdeutschen Priesterwerkes, 50. Jg., Jan. 2005, Nr. 1, S. 3–5


6) Aus Leidenschaft für Christus mitleiden mit den Menschen. Predigt beim Kirchweihfest der Ortsgemeinschaft Filipowa zu Ehren der Patrone der einstigen Pfarrkirche, der Apostel Philippus und Jakobus, in der Pfarrkirche Chieming, 1. Mai 2005, abgedruckt in: Filipowa’er Heimatbriefe 65/2005, S. 42–46


7) Aus der Hoffnung leben – Zukunft gestalten. Pontifikalamt zum Jahresschluss, Münster Unserer Lieben Frau Freiburg, 31. Dezember 2007

 

Über den Autor:

Stefan P. Teppert, geboren 1956 in der donauschwäbischen Kolonie Entre Rios im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná, wuchs in Gosheim / Kreis Tuttlingen auf. Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Freiburg, Wien und Tübingen. Schrieb danach als freier Feuilletonist u. a. für den „Rheinischen Merkur“, die „Esslinger Zeitung“, „Universitas“. und die Zeitschrift „MUT“. 1987–1988 Redakteur im MUT-Verlag. 1988–1999 Bundeskulturreferent der Landsmannschaft der Donauschwaben. Seither freier Journalist, Redakteur, Autor, Herausgeber.

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