Zeitzeugenbericht des Prof. Dr. Josef F. Thiel

„Ich bin kein typischer Fall!“

Vorbemerkung.
Als ich am Karsamstag 1945 mit meiner Mutter und den Geschwistern ins Lager kam, war ich zwölfeinhalb Jahre alt. Das Schuljahr 1943/44 hatte ich in einem ungarischen Gymnasium in Szabatka (Subotica) verbracht. Ich konnte mich in mancher prenzligen Situation den Partisanen gegenüber als ungarischer Sallaschbub „verkaufen“. Da meine ältere Schwester fürs Arbeitslager in Filipowa zurückbehalten wurde, fühlte ich mich als Ältester verpflichtet, zum Unterhalt irgendwie etwas beizutragen. Aus verschiedenen Gründen kann meine Internierung nicht als typisch für Jugendliche meines Alters angesehen werden. Das Lagerleben war eine Herausforderung, die ich meist als Abenteuer begriff.

So miserabel unsere Situation im Lager war, so habe ich mich doch manchmal richtig gefreut, wenn ich Posten und Partisaner austricksen konnte und unbeschadet durchkam. Es war jedesmal auch eine Art Nervenkitzel dabei, wenn ich nach Mitternacht aus- oder mich ins Lager einschlich. Manchmal wurde ich auch erwischt, dann bezog ich Hiebe und wurde eingesperrt, aber traurig war ich nur, weil sie mir meine Lebensmittel abgenommen hatten.


Kurzer Lebenslauf in der Lagerzeit (1945-1947)

Am Karsamstag 1945 wurden alle Bewohner meines Heimatdorfes aus ihren Häusern gejagt. Mein Vater war in der Sowjetunion zwangsinterniert. Meine Mutter hatte außer mir noch fünf Kinder. Meine Schwester Wawi war älter als ich, alle anderen waren jünger. Meine Mutter hatte unsere Vertreibung geahnt. Sie hatte für jedes Kind einen Rucksack mit dem Notwendigsten darin vorbereitet. Als der Partisan in unser Haus kam und schrie: in fünf Minuten hätten wir das Haus zu verlassen, blieb unsere Mutter ganz ruhig und sagte: „Endlich ist es soweit!“. Sie gab jedem Kind seinen Rucksack. Dann gingen wir auf die Straße und zogen auf die Hutweide am anderen Dorfende.

Ich gehörte zu den Großen im Lager, deshalb mußte ich auch jeden Tag auf Robot gehen. Mutter hatte mir aus Sacktuch eine derbe Umhängtasche genäht, in der ich immer ein kurzes Wurfholz hatte. Wir gingen in großen Gruppen auf die Felder arbeiten. Wenn wir in der Nähe eines Sallaschs arbeiteten, machte ich mich selbständig und sah zu, daß ich mit meinem Holz ein Huhn erbeuten konnte Auch Gemüse war mir recht. Ich packte es in meine Tasche und brachte es am Abend zu Mutter.

Ich machte auch gerne bei den Waggonschiebern mit. Die hatten jeden Tag einen Waggon Mehl aus Stanischitz nach Gakewa zu schieben. Es kam immer wieder mal vor, dass ein Mehlsack mit etwas Nachhilfe platzte, und ich mine Tasche füllen konnte. Man kam auch mit den Waggonschiebern unkontrolliert ins Lager. Man musste sie nur in einem Gebüsch abpassen und sich dann schnell unter die Schieber mischen.

Meine Mutter gewann den Eindruck, dass ich ihr etwas aus der Hand glitt: Ich stahl, log mich als ungarischer Sallaschbub durch. Kurz, ich machte alles, was ich früher zu Hause nicht durfte. Sie sagte, ich verrohe. Ich habe aber niemals Arme bestohlen!

Da traf es sich gut, dass ein ungarisches kinderloses Ehepaar aus Bezdan, das früher mal bei uns zu Hause war, sich bei unserer Mutter meldete. Die Frau, wir nannten sie Marischnéni, sagte, sie würden gerne eines der Kinder zu sich nehmen, damit es sich erholen könne. Meine Aufgabe war es, meine kränkliche Schwester Eva nach Bezdan zu bringen. In den kommenden Wochen schlich ich mich nachts häufig aus dem Lager und lief bis Bezdan, damit Eva niht traurig werde, denn sie sprach noch kein Ungarisch. Dort aß ich gut, und Marischnéni füllte mir immer die Tasche mit Lebensmitteln.

Die schöne Nachbarstochter Illusch, sie war die Nichte von Marischnéni, hatte einen Partisaner als Geliebten, der in die Leitung des Lagers nach Gakewa versetzt wurde. Er besuchte seine Geliebte fast jedes Wochenende. Er kam in einer „Kuless“ und hatte einen Fahrer aus Kernei. Marischnéni gab dem Kutscher häufig ein Lebensmittelpaket für Mutter mit. Der Lagerkommandant nahm einmal sogar mich mit in der „Kuless“, weil ich ihm als ungarischer Bub aus der Baranya vorgestellt wurde, der seine Verwandten, die Katzenberger-Lehrer, in Gakewa, besuchen wolle.

Im Herbst war ich 13 geworden. Ich fand das Lagerleben eintönig. Ich sagte meiner Mutter, ich würde gerne meine Schwester Wawi besuchen. Sie willigte ein, weil wir öfter hörten, sie weine oft, weil niemand von uns bei ihr sei. Ich fand noch vier andere Buben, die mitkommen wollten. Zwei wurden schon hinter Sombor eingefangen, weil sie unvorsichtig waren. Wir gingen zu Dritt weiter, meist in Maisfeldern. Aber auch wir wurden unvorsichtig, verließen die Maisfelder und wurden vor Doroslo überrascht und festgenommen. Wir kamen in Doroslo in ein echtes Gefängnis mit Gittern und Schlössern.

Ein älterer ungarischer Polizist hatte Dienst. Wir sagten ihm, daß wir schon mehrere Tage nicht mehr richtig gegessen hätten. Am Nachmittag brachte uns seine hübsche Tochter Csirkepaprikás (Hähnchengulasch), Weißbrot und Trauben. Ich dachte mir: So kann man es im Gefängnis aushalten! Der Alte erzählte, der Chef sei ungehalten, weil er uns jetzt mit dem Wagen nach Gakewa bringen muss. Die wollen uns also gar nicht haben, sagte ich zu meinen Kollegen. Wir werden heute Abend, wenn der Dienst des Alten zu Ende ist, uns aus dem Staub machen. Ich hatte das Gelände während des Toilettengangs ausgekundschaftet. Neben den Toiletten gab es eine hohe Wand, daran waren Hölzer und Pfosten angelehnt. Ich rückte sie gleich zur Seite. Auf die Mauer kommen wir leicht, aber das Runterspringen auf der anderen Seite könnte gefährlich sein. Ich sprang als Erster und ich fing die anderen auf. Die beiden liefen in eine Richtung. Ich durchwatete die Mostung. Meine beiden Kumpanen waren die jüngeren Brüder von Dr. Georg Wildmann. Wir haben uns nie wieder gesehen.

Ich lief stundenlang durch die Felder, denn ich wusste nicht, wo ich war. Als ich die beiden Türme vom Bründl sah, wusste ich, ich bin auf der Milticser Straße. Ich lief bis zur Mühle, denn ich hoffte dort meinen Onkel Sepp anzutreffen. Den traf ich, aber er war auch interniert.Am Morgen holten mich zwei Milizen und brachten mich im Pferdewagen nach Filipowa, denn sie waren der Meinung, ich sei dort ausgerissen. Zunächst gab es viele Schläge, dann wurde ich mit anderen zwei Tage und Nächte in Tischtlers (Baajemischke) „Gwelb“ ohne Essen eingesperrt. Ich wusste, dass meine Tante in Filwpa im Lager ist und meine Schwester im Arbeitslager in Filpwa Säue füttert.

Was hat meine Schwester geweint, als sie mich sah. Ich musste ihr mehrere Tage lang von Mutter und den Geschwistern erzählen. Sie wollte, ich solle sie mitnehmen nach Gakewa. Ich habe ihr abgeraten, denn Mutter hätte nur eine weitere Esserin und sie könne da nicht abhelfen.

Als ich am Abend ins Lager kam, wusste meine Tante, dass Onkel Sándor, Pfarrer in Karbok (Karawukowo)nach mir suche. Er sagt, ich könne zu ihm kommen, denn er brauche ein Faktotum im Haus wie in der Kirche. Ich mischte mich morgens sehr früh unter die Feldarbeiter, machte mich selbständig und wartete in einem Maisfeld den Abend ab. Ich hatte Angst, am Tag würde ich in meinem Aufzug zu sehr auffallen. Onkel war noch wach als ich an sein Fenster klopfte. Als er mich sah, sagte er: „Wo hast du denn dein Gepäck? Ich wies auf meine Umhängtasche und sagte, dass Wawi mir eine Hose und zwei Hemden geschenkt habe.

Bei meinem Onkel verlebte ich eine schöne Zeit. Nach dem Winter machte ich mich mit einem großen Korb voll Essen auf den Weg zu meiner Mutter. „Ausreißer“ rieten mir, ich solle auf den letzten Sallasch vor Gakewa gehen. Dort kämen fast immer gegen Abend Wagen vorbei, die Maisstengel für die Feldküchen holten. Tatsächlich kamen auch zwei Karboker Männer, die Maisstengel für die Befeuerung der Küchen holten. Als ich sie bat, mich ins Lager mitzunehmen, willigten sie gerne ein. Da ich aus Karbok kam, nahmen sie von mir nichts an. Sie legten mich und meinen Korb unter die Maisstengel, und der Partisan-Posten ließ uns passieren. Als wir im Lager waren, holten sie mich aus dem Versteck und gaben mir meinen Korb. Ich musste noch etwas herumfragen, denn meine Mutter war in ein kleines Haus an der Vierzehn Nothelfer-Kapelle gezogen.

Die Wiedersehensfreude war natürlich überschwenglich. Ich war vor allem auf meinen kleinen Bruder Franz neugierig. Man merkte ihm nicht die Lagerkost an. Mutter hatte sehr gut für ihren kleinen Libling gesorgt und dabei sicher auf vieles selbst verzichtet. Als ich in wenigen Wochen wiederkam, war er schon beerdigt. Man wusste nicht was er hatte.

Nach Ostern begaben sich mein Onkel und sein Freund, Pfarrer Moullion, auf Reisen, um einen sicheren Weg nach Österreich auszukundschaften. Sie wurden in Slowenien verhaftet und in Belgrad interniert. Mir war klar, dass meine Tage in Karbok gezählt waren. Ich wollte aber noch meine Schwester Wawi aus dem Arbeitslager im Ried herausholen und nach Bezdan bringen. Ich nahm Onkels Fahrrad und fuhr ins Ried. Es war mehr als nur eine abenteuerliche Aktion Wawi aus dem Ried nach Karbok und von da nach Bezdan zu bringen. Selbst ihre Kleidung würde sie schon als Schwabenmädchen ausweisen. Wenn wir mal aus Jugoslawien fliehen wollen, so dachte ich mir, muss Wawi in der Nähe von Gakewa sein. Mein Plan war, sie zu Marischnéni zu bringen, die würde wahrscheinlich einen ungarischen Haushalt finden, in dem sie als Magd arbeiten könne. Es klappte alles. Ich musste schnell zurück nach Karbok, denn die Miliz würde sicher den Haushalt unseres Onkels in Augenschein nehmen wollen. Meine Reisetasche lag, mit Proviant gefüllt griffbereit in der Küche.

Kurze Zeit später klingelte es so heftig an der Eingangstür, dass ich wusste, wer das sein muss. Ich lief schnell ans hintere Tor, warf meine Tasche drüber und kletterte nach. Da ich keine Papiere besaß, wäre ich in ein Lager gekommen. Jetzt stand ich da, aber was sollte ich machen?! Sollte ich zu einem ungarischen Bauern als Kleinknecht gehen? Doch bei mir sträubte sich alles dagegen. Ich habe mich bisher doch ganz gut geschlagen, bin immer gut durchgekommen, hatte genug zu essen usw. Mir gefiel offensichtlich mein unstetes Leben. Ich kam zu dem Entschluss: Ich werde nach Miltitsch gehen, vielleicht behalten sie mich jetzt dort. Vor knapp einem Jahr hatten sie mich den Milizen übergeben.

Ich wartete bis es finster wurde, dann schlich ich mich in die Mühle. Ich traf im Maschinenraum meinen Kousin Hans. Der machte mir gleich Hoffnung, daß ich bleiben dürfe, denn die Mühle habe für 10.000 deutsche Kriegsgefangene Mehl zu liefern, die in Bogele (Bogojevo) eine Eisenbahnbrücke über die Donau bauen. In paar Wochen könntest du die dritte Schicht fahren. Die Mühle muss meist Tag und Nacht laufen. Er werde noch heute Abend mit Upravnik Milosch sprechen.

Am nächsten Vormittag ließ mich Milosch in seine Wohnung rufen. Er erkundigte sich ausgiebig nach meiner Herkunft und ob ich auch Lust hätte, im Maschinenhaus zu arbeiten. Dann sagte er: Ich werde zusehen, dass du hier bleiben kannst. Wenn du dich gut anstellst und beim Meister ordentlich lernst, kannst du unser dritter Mann werden!“ Milosch war Slowener und sprach sehr gut Deutsch. Ich setzte alles daran, um Milosch zufrieden zu stellen.

Ich war im April in die Mühle gekommen und an meinem Geburtstag im September durfte ich meine erste Schicht von Mitternacht bis morgens um Acht fahren. Ich habe mich wie ein Erwachsener gefühlt. Anfangs haben der Meister und Milosch mich wiederholt besucht und nachgesehen, aber sie waren mit mir und meiner Arbeit zufrieden. Mir machte die Umgebung und meine Arbeit viel Freude. Hier wäre ich gerne für immer geblieben.

Mir aber war klar, dass meine Zukunft nicht in Jugoslawien sein könne. Wir waren nur noch so lange gedultet, bis sie Leute hatten, um uns zu ersetzen. Wir bekamen auf Druck der Partei einen Lehrling, den Milosch nicht haben wollte. Er war Crna Gorac. Er trug in seinem Hosenbund immer seinen Revolver. Er war nett und wissbegierig; wir verstanden uns sehr gut. Von ihm hab ich viel Serbisch gelernt.

Im Früujahr ging ich zu Milosch und sagte ihm, dass ich bei nächster Möglikeit ins Lager Gakewa abwandern will. Er suchte mich nicht zurückzuhalten, denn er wusste um unsere Situation. Im Grunde war es auch seine. Er meinte nur, der Meister und der Obermüller haben auch schon angekündigt, dass sie gehen wollen. Auch sein Stuhl wackelte. Er war zwar während des Krieges Partisaner, aber er trat nicht in die Partei. Dazu ging seine Frau in die Kirche.

Am 2.Mai 1947 brachte ein Pferdewagen mich und andere Lagerleute nach Gakewa. Ich weiß nicht warum, aber der Abschied aus der Mühle fiel mir schwerer als der von Filpwa.

Als ich Mutter sagte, dass ich nach Gakewa gekommen sei, weil wir jetzt alle zusammen nach Ungarn fliehen wollen. Sie wolle mit den beiden kleinen Mädchen (Hedwig und Notburga) in Jugoslawien bleiben: Wir Großen könnten ohne sie gehen. Mit dem Tod des kleinen Franz sei sie so apathisch geworden, erzählten die Leute im Haus. Ihre Energie schien aufgebraucht. Zunächst holte ich Wawi von Bezdan ins Lager. Die Eva wollte vorerst in Bezdan bleiben. Dann arrangierte ich mit unserem Onkel in Karbok, wo und wann wir uns in Ungarn treffen wollen, um dann gemeinsam Österreich zu erreichen. Es war schwer Mutter zu überreden, schließlich willigte sie doch ein. Die Flucht war etwas langwierig, aber sie gelang – Wir waren frei.

Scroll to Top