Was hat dieser Ort mit Bad Niedernau zu tun? Sehr viel, denn die von dort vertriebenen Bewohner haben in Bad Niedernau einen zentralen Ort gefunden. Hier existierte ihre Klosterschule weiter – und hier steht ihre Kapelle, für deren Errichtung sie im Konzentrationslager ein Gelöbnis abgelegt hatten.
Filipowa – eine Großgemeinde in der Batschka (heute Serbien)
Filipowa war eine ländlich geprägte Gemeinde mit Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. Die Lebenswelt des Dorfes war stark in die Rhythmen der Landwirtschaft und der religiösen Feste eingebettet. Nach der amtlichen Volkszählung von 1941 hatte das Dorf 5.300 Einwohner. In mehrfacher Hinsicht nahm Filipowa eine Spitzenstellung unter den donauschwäbischen Gemeinden ein: durch seinen Kinderreichtum, sein ausgeprägtes religiöses Leben, den hohen Stand seiner Bildung und Sitten sowie die weltweit ihresgleichen suchende Zahl seiner geistlichen Berufungen. Diese vier Elemente gingen Hand in Hand.
Allein in den letzten 50 Jahren seines Bestandes brachte der Ort über 130 Ordensschwestern und 50 Priester bzw. geistliche Berufe hervor.
Wie Filipowa gegründet wurde
Der Ort im heutigen Serbien wurde ab 1763 im damals zur österreichischen Monarchie gehörenden Gebiet gegründet und von katholischen Kolonisten aus dem südwestdeutschen Raum besiedelt. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia hatte die Anwerbung ausgerufen und sie kamen zahlreich in die Ländereien der Batschka. 1767 waren es in Filipowa schon 214 Häuser in denen 890 Menschen lebten. Nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Revolutionsjahr 1848 wurde das Gebiet der Batschka und des Banats zu einem eigenen habsburgischen Kronland namens „Serbische Woiwodschaft und Temescher Banat“ erhoben. Aber bereits nach der Errichtung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn im Jahre 1867 gehörte Filipowa wieder zum ungarischen Staatsgebiet.
Ein Ort in der Vielvölkerregion
Der Ortsname – laut einem frühen Hofkammerarchiv-Eintrag in Wien „Philippowa“ – verweist auf den Apostel Philippus und wurde in der Vielvölkerregion in jeder Sprache etwas anders ausgedrückt. 1867, mit der jetzt neu geschaffenen Doppelmonarchie, wurden die Bewohner ungarische Staatsbürger und die Amtssprache deutsch wurde durch ungarisch abgelöst. Ab 1904 hieß der Ort auch offiziell in ungarisch Szent Fülöp. Nach dem Ende der Doppelmonarchie gehörte – jetzt Filipovo / Филипово – die Großgemeinde zum neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, ab 1929 Jugoslawien genannt.
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Während des Zweiten Weltkrieges
1941 besetzte Hitler-Deutschland Jugoslawien und die Region wurde wieder dem verbündeten Ungarn zugewiesen, die Filipowaer wurden wieder zu ungarischen Staatsbürgern. Anfang Oktober 1944 flüchteten mit den zurückweichenden deutschen Truppen rund 510 der 5 306 Einwohner vor der heranstürmenden Roten Armee, die schließlich Ende Oktober in Filipowa einrückte. Anfang November begann die Herrschaft der Partisanen der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee und damit die Vertreibung. Der Antifaschistische Rat der nationalen Befreiung Jugoslawiens (AVNOJ) erklärte alle Deutschen zu Volksfeinden. Sie verloren alles, alle Rechte, allen Besitz und waren vogelfrei der Willkür ausgesetzt. Erschießungen, Verschleppung zur Zwangsarbeit, Internierungslager und Vertreibung waren das Schicksal, das die jetzt über 5000 Filipowaer wie auch alle anderen deutschstämmigen Bewohner der Region erwartete. Gleich am 25. November 1944 wurden 212 Männer und Jugendliche von einem serbischen Partisanenkommando ausgewählt und auf einer Wiese vor dem Ort gequält, erniedrigt und ermordet. Nach serbischen, im Jahr 2006 veröffentlichten Dokumenten, wurde ein großer Teil von ihnen erschlagen.
Der Ort wurde auf grausame Weise geräumt. Es kam dabei auch zu Misshandlungen und Erschießungen. Am 31. März 1945, am Karsamstag, wurden alle Bewohner aus den Häusern getrieben. Der Ort war innerhalb von zwei bis drei Stunden geräumt. Wer nicht mehr gehfähig war, musste zurück gelassen werden. Nur das Pfarrhaus und das Kloster der Nonnen wurden verschont. 5000 bis 6000 Menschen (im Ort befanden sich auch Vertriebene aus Nachbarortschaften) sammelte man auf einer Wiese am Ortsrand, jetzt wurden die Arbeitsfähigen abgesondert. Diese mussten für die kommenden Wochen das Vieh versorgen und die Häuser räumen. Viele Mütter mussten deshalb ihre Kindern zurücklassen. Allen wurden ihre Wertsachen abgenommen. Im Dorf wurden derweil Häuser leergeräumt. Die Ausgeplünderten verfrachtete man in Viehwaggons, die – nach drei Stunden Fahrt wurde es klar – in das Internierungslager Gakowa fuhren.
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Filipowa wird zu Bački Gračac
Nachdem der Ort geräumt war, zogen schon im Herbst 1945 serbische Kolonisten aus der Lika, im dalmatischen Gebirge Kroatiens, in die Häuser ein – seitdem heißt der Ort Bački Gračac, nach dem Ort Gračac, aus dem sie gekommen waren. Wenige deutsche ehemalige Bewohner holte man zurück, um beispielsweise die Hanffabrik und die Mühle weiterhin in Betrieb zu halten und die neuen Besitzer in die pannonische Landwirtschaft einzuweisen. Auch einige der Armen Schulschwestern blieben noch bis Mitte der 1950er Jahre in Filipowa zurück.
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Dr. Raimund Eichinger; Filipowa nach Filipowa; Sozialgeographische Entwicklung einer donauschwäb. Gemeinde nach der Vertreibung. Dissertation 1987 an der Universität Graz.
Hier ein Auszug von Statistiken aus dieser Arbeit:
Einwohnerschaft 1945 nach Herkunft, Haushalt und Beruf gegliedert:
Einwohnerzahlen 1945:
Donauschwaben | 5280 |
Madjaren | 15 |
Slawen | 11 |
Insgesamt | 5306 |
Familiäre Gliederung 1945:
Häuser | 801 |
Haushalte | 1431 |
Familien | 1121 |
Alleinstehende | 310 |
Berufständische Gliederung:
Bauern | 348 |
Handwerker/Gewerbetreibende | 382 |
Arbeiter/Tagelöhner | 391 |
Kriegs- und Lageropfer
Im II. Weltkrieg als Soldaten gefallen | 165 |
Am 25.11.1944 von Partisanen ermordet | 212 |
Als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion verstorben | 53 |
Erschossen oder erschlagen | 24 |
Als Zivilisten oder Soldaten vermisst | 69 |
Auf der Flucht (1944/48) verstorben | 57 |
In den Lagern verhungert bzw. verstorben | 833 |
Gesamtzahl der Kriegs- und Lageropfer | 1413 |
Der Ort verlor demnach durch Krieg und Verfolgung 26,7 Prozent seiner Einwohnerschaft
Nach dieser Statistik waren von den in Jugoslawien verbliebenen Bewohnern Filipowas Anfang April 1945:
lagerfrei in Flipowa | 2,4% |
im Lager Filipowa | 19,5 % |
im Konzentrationslager Gakowa | 57,2 % |
in Arbeits- u. anderen Konzentrationslagern | 21,0 % |
Von denen, die fliehen konnten, flohen:
von April 1945 bis März 1947 | 28,5% |
im März 1947 | 14,3% |
im April 1947 | 25,3% |
im Mai 1947 | 17,4% |
von Juni 1947 bis Januar 1948 Für 3 weitere Jahre zwangsverpflichtet | 10,8% 3,7% |
Neue Heimat nach der Vertreibung
Nach Stand vom 1. Dezember 1987 waren von den vertriebenen Bewohnern Filipowas sesshaft geworden in:
Europa
BRD | 2168 |
Österreich | 1078 |
Ungarn | 97 |
Jugoslawien | 59 |
DDR | 50 |
Schweiz | 9 |
Frankreich | 8 |
CSSR | 2 |
Italien | 2 |
Insgesamt | 3437 |
Übersee
USA | 308 |
Kanada | 96 |
Südamerika | 8 |
Afrika | 5 |
Austalien, Neuseeland | 8 |
Insgesamt | 425 |
Von den 5306 Einwohnern Filipowas haben 3898 überlebt und in 18 Ländern eine neue Heimat gefunden, 89 Prozent in Europa, 11 Prozent in Übersee.
1947 bedeutete für die Überlebenden das Hauptfluchtjahr.
Die gebürtigen Filipowaer bauten sich weltweit zu 80 Prozent Eigenheime.