Sie gingen ein Jahr lang hier zur Schule! Maria Niederle und Karin Ledwinka

Maria (geb. 1955) und Karin (geb. 1958) als Schülerinnen in
Bad Niedernau 1967/68

Karin Ledwinka und Maria Niederle waren zusammen mit ihren Geschwistern und Eltern 1967 im Spätaussiedler-
Auffanglager in Weil der Stadt unter­ge­kommen. Dort herrschten sehr be­­engte Platzverhältnisse für die deutschen Familien aus der Tsche­choslowakei. Zwei sich u­n­bekannte Familien teilten sich eine Dreizimmerwohnung.

Zuvor, in der ČSSR, hatten die deu­tschen Kinder in der Schule auf Tschechisch lesen und schreiben gelernt. Zuhause wurde
allerdings Deutsch gesprochen. Jetzt, in Weil der Stadt, bot sich für die Mädchen der Aussiedler­familien die Möglichkeit, ein Jahr im Internat der Armen Schulschwestern in Bad Niedernau zu verbringen, um dort möglichst schnell ihre bisher nur schwach entwickelten deutschen Sprachkenntnisse nachzuholen.

Der Förderschuljahrgang 1967/68
mit Karin (2.v.l.) und Maria (4.v.r.). Foto: privat
Schulunterricht 1966. Foto: Archiv Arme Schulschwestern.

Das Schulleben im Internat der Förderschule war kein Zuckerschlecken. Die Schulschwestern waren streng. Die Klosterfrauen lehrten das Leben nach Klostermanier: beten und arbeiten. Nicht selten gab es Tränen, denn die Pädagogik mit Tatzenstock und „in die Ecke stehen“ war für die Kinder hart. Durch die vielfältigen Erlebnisse in diesem Jahr und das gemeinsame Schicksal entstand unter den Schülerinnen eine innige Freundschaft, welche bis zum heutigen Tage anhält.

Taschentuch der Maria mit ihrer Wäschenummer 11. Die Wäschezeichen mussten von den Mädchen selbst eingenäht werden. Foto: Maria Niederle

Gerade die jüngeren Kinder litten unter der Trennung von ihren Eltern. Sie fühlten sich eingesperrt in den Klostermauern, wollten sich bewegen und draußen frei spielen. Doch der Tagesablauf in der Förderschule war streng festgelegt: lernen, essen, beten, schlafen. Die Mädchen waren bislang vom sozialistischen System der ČSSR atheistisch erzogen worden und fühlten sich zunächst durch die intensiv gelebte religiöse Praxis im Kloster überfordert.

Bei der Erstkommunion 1968 in der Niedernauer Dorfkirche. Karin Ledwinka ist die zweite von links mit den dunkleren Zöpfen. Foto: Archiv Arme Schulschwestern

Als Schulkleidung waren überknielange Röcke oder Kleider sowie eine Schürze vorgeschrieben. Der Unterricht fand in dem zweistockigen Gebäude neben der Steinerschen Villa statt. Es gab zwei Klassenstufen in der Förderschule: Im sogenannten Speisesaalgebäude (Jagdschlösschen) war das Klassenzimmer der „Großen“ untergebracht, Schülerinnen im Alter von 10 bis 14 Jahren. In der sich daran anschließenden Halle wurden die „Kleinen“ im Alter von 8 bis 10 Jahren unterrichtet. Schwester Sigismunda leitete die Schule, aber auch Schwester Cäcilia, Schwester Lea und Schwester Honoria arbeiteten mit im Lehrdienst. Unterrichtsschwerpunkte waren Deutsch, Rechnen und Handarbeiten. Heimatkunde und Erdkunde kamen gelegentlich auf den Stundenplan, Sportunterricht gab es keinen.

Im separaten Gärtnerhaus gab es das Internatsessen. Es war reichlich und im Stile der Donauschwaben mit viel kräftiger Wurst. Die Portionen wurden zugeteilt und die Teller mussten ungeachtet des Sättigkeitsgefühls leer gegessen werden.

Die Förderschule der Armen Schulschwestern war in der ehemaligen Villa des Unternehmers und Bankiers von Steiner untergebracht. Ansichtskarte 1960er Jahre. Archiv Arme Schulschwestern

Alle zwei Monate durften die Eltern zu Besuch kommen, sie wurden im Gärtnerhaus empfangen. Briefe an die Eltern durften nur im geöffneten Zustand über die Lehrerinnen versendet werden. Süßigkeiten aus von den Eltern gesandten Päckchen wurden unter allen Schülerinnen verteilt.

Die „Großen“ hatten auch zusätzliche hauswirtschaftliche Aufgaben zu erledigen. Sie halfen beim Servieren als „Tischdienerin“, beim Spülen in der Küche und leisteten weitere Hilfsdienste. Freiwillige Hilfsdienste der „Kleinen“ wurden gelegentlich mit einem Keks belohnt.

Zeugnis der Maria Niederle von 1968

Nach dem gemeinsamen Abendgebet ging es in Zweierreihen durch den Steinerschen Garten hinunter zum Schlafen ins Fritz-Keller-Haus. Schweigend, denn vom Abendgebet an bis zum gemeinsamen Gebet am darauffolgenden Morgen galt für alle Schülerinnen ein strenges Sprechverbot.

Im „Fritz-Keller-Haus“ waren die beiden zusammen mit anderen Mädchen untergebracht. Eine Schwester war ebenfalls hier einquartiert. Foto: privat

Zur Belohnung oder als Fleißpunkt verschenkten die Schwestern kleine gedruckte Heiligenbildchen. Diese waren unter den Schülerinnen als Sammelobjekte sehr begehrt. Eine Besonderheit war, wenn Schwester Sigismunda Geschichten erzählte. Alle lauschten aufmerksam ihren Worten, denn sie war eine großartige Erzählerin.

Eintrag der Schwester Elisabeth in das Poesiealbum. Sie hatte damals die Aufsicht im Fritz-Keller-Haus, wo die Mädchen schliefen.

Mit der Zeit stellte sich dann bei den Schülerinnen auch der Erfolg des Lernens ein. Trotz oder gerade wegen des strengen ganztägigen Unterrichts waren am Ende des Jahres erfolgreich die Grundsteine der deutschen Sprache gelegt. Vervollständigt durch den anschließenden Schulbesuch am Wohnort konnten die Schülerinnen schon bald auf ein fehlerfreies Deutsch zurückgreifen.

Das Jahr ist fast um – bald geht es zurück zur Familie!
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